Sinnsuche im Watt
In ihrem Roman Halbinsel, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025, porträtiert die Journalistin und Autorin Kristine Bilkau ein Mutter-Tochter-Gespann. Als Linn unerwartet zu ihrer Mutter Annett auf die titelgebende Halbinsel zurückkehrt, loten die beiden ihre Beziehung und ihre unterschiedlichen Lebenskonzepte neu aus.

Viele Lebensstationen, geprägt von Schmerz und Freude, liegen hinter Annett. 30 Jahre sind vergangen, seit die Protagonistin in Kristine Bilkaus Roman Halbinsel auf eine kleine norddeutsche Halbinsel zog. 25 Jahre ist es her, dass ihre Tochter Linn zur Welt kam, und vor 20 Jahren starb Johan, Annetts große Liebe. Längst fühlt sich Annett heimisch auf ihrer kleinen Insel, doch hin und wieder wünscht sie sich ein Leben mit mehr Weite, googelt Jobangebote in fremden Städten oder gar fremden Ländern.

Tochter Linn wiederum lebt diese Weite. Ambitioniert und idealistisch arbeitet sie in einer Berliner Beratungsfirma für Umweltprojekte, zuvor hat die junge Frau im Ausland studiert und gearbeitet. Doch nach einem Ohnmachtsanfall kündigt Linn kurzerhand Job und Wohnung und zieht zurück in das Haus ihrer Mutter, wo sie beginnt, in der örtlichen Bäckerei zu arbeiten. Linn will die Schnelllebigkeit hinter sich lassen, das eigene Leben in ruhige Bahnen lenken, ohne Leistungsdruck und drängende Erwartungen an sich selbst. „Unterfordert sein, genau das will ich“, sagt sie selbstbewusst. Mutter Annett missfällt der neue Lebensplan ihrer Tochter, sie fürchtet das vergeudete Potenzial, versteht nicht, warum Linn all die ihr gegebenen Möglichkeiten nicht nutzen will. Unter den Bedingungen der großen Nähe zwischen den beiden treten Spannungen auf, Diskussionen entstehen um die Privilegien junger Menschen auf der einen, ihre Hoffnungslosigkeit angesichts der krisenbehafteten Welt auf der anderen Seite. Dabei konzentriert sich der Roman vor allem auf die voranschreitende Klimakrise: „Wo um alles in der Welt sollte die Zuversicht herkommen für junge Menschen wie Linn, woher?“
Fünfundzwanzig würde sie diesen Winter werden, alle diese Jahre, diese gesamte Zeit schien mir so überschaubar, so verschwindend schnell vergangen, als stünde ich an einer Bahnschranke und ein Zug rast vorbei […].

Kristine Bilkau, die mit ihrem letzten Roman Nebenan auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 stand, erzählt Linns und Annetts Geschichte trotz des Generationenkonflikts nicht laut und schnell. Vieles ereignet sich bei ihr in Gesten, Zwischentönen oder Annetts Gedankenwelt, insbesondere in den Zwiegesprächen mit dem verstorbenen Ehemann Johan. Dabei schafft die Autorin atmosphärische, eindrückliche Szenerien: Ein Grauschimmel im Watt, türkis gemusterte Kacheln für das Bassin der neuen Nachbarn, ein Backstein im Schlick, Leinsamenbrot aus der Bäckerei im Ort – bedeutungsvolle Bilder wie diese begleiten Annett und Linn auf ihren jeweiligen inneren Reisen. Denn auch Annett lotet das eigene Leben neu aus: Während sich die Tochter in die Ruhe zurückzieht, wagt die Mutter einen Ausflug nach draußen und gibt ihrem Alltag mehr Weite.
Kristine Bilkau hat in Halbinsel mit sensibler Sprache ein glaubwürdiges Generationenporträt geschaffen, das Identifikationspotenzial für zahlreiche Lesende bietet. Ein besonderer Roman, der in einer ruhigen Form große gesellschaftliche Themen miteinander verwebt und völlig verdient mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 prämiert wurde.
Sophie Arnold ist bei der Büchergilde für Presse und Veranstaltungen zuständig und möchte jetzt unbedingt eine Wattwanderung auf Kristine Bilkaus Halbinsel unternehmen.
Die Autorin
Kristine Bilkau, geboren 1974 in Hamburg, studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Ihr Romandebüt Die Glücklichen fand ein begeistertes Medienecho und wurde mehrfach ausgezeichnet. Mit Nebenan stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Halbinsel wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet. Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.